«Von der Heidenbekehrung zur Befreiungstheologie» Ernstpeter Heiniger: Buchvernissage am 27. Oktober 2022

Die Biographien von sechs Schweizer Missionaren, die zwischen 1902 und 1996 lebten und in China und Kolumbien wirkten. Die geschichtliche und kirchliche Dynamik eines Jahrhunderts. Anregende Impulse von Dr. Titus Lenherr an der Vernissage im Romero-Haus. (Red.)

28.10.2022

Autor: Dr. Titus Lenherr

1. Vom Aleph zum Geländer auf dem Dach

Dem Impuls habe ich den Titel gegeben: «Vom Aleph zum Geländer auf dem Dach – und zurück». Damit möchte ich beginnen.

Die Thora, die Lebensordnung des jüdischen Volkes, enthält 613 Gebote und Verbote. 248 Gebote, so viele, wie nach jüdischem Verständnis der Mensch Glieder und Organe hat, und 365 Verbote, so viele, wie das Jahr Tage hat. Die Thora betrifft also den ganzen Raum und die ganze Zeit, schafft «Heilsraum» und «Heilszeit». In der jüdischen Theologie gibt es nun zur Thora folgende Frage: Was hat Gott am Sinai wirklich gesagt? Hat er selbst alle 613 Gebote und Verbote der Thora verkündet und aufgeschrieben? Die Antworten sind vielfältig. Neben der Ansicht, die ganze schriftliche Thora mit allen 613 Bestimmungen habe Gott selbst verkündet, stehen Ansichten wie: Gott habe nur die «10 Gebote» selbst gegeben und auf Tafeln geschrieben, die anderen seien «Auslegungen» davon. «Du wirst auf dem Dach ein Geländer anbringen», sei eine «Folge» aus dem 5.Gebot: «Du wirst nicht töten.» Denn wer ein Haus baut, mit einem Flachdach, und zu diesem Dach führt eine Treppe hinauf, muss dafür sorgen, dass keiner, der auf das Dach steigt, zu Tode fällt … Noch andere sagen, unmittelbar aus dem Munde Gottes sei nur das 1.Gebot gekommen: «Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.»

Oder: Am Sinai sei nur ein «Schall» zu hören gewesen, der von Mose für die Israeliten artikuliert worden sei. Jede dieser Antworten ist mit einer biblischen Hermeneutik» oder einer Theologie verbunden (die ich hier nicht darlegen kann).

Eine Antwort, aus viel späterer Zeit, die Antwort von Rabbi Mendel Torum von Rymanow †1814), ist noch radikaler, ich finde sie genial. Nach Rabbi Mendel hat Gott am Sinai nur den ersten Buchstaben des ersten Gebotes gesprochen. Der erste Buchstabe des ersten Gebotes ist ein Aleph, das Aleph im Wort «’anochi» – «ich». Dieses Aleph ist im Hebräischen nicht unser Vokal «a». Es bezeichnet einen fast nicht hörbaren Laut, den  Stimmansatz» vor einem Vokal – wie wir ihn auch in unserer Sprache kennen, aber nicht schreiben, etwa wenn wir sagen «Abend», «oben», «unten», «innen», «aussen» …

Wenn Gott am Sinai nur das Aleph gesprochen hat, wenn nur der Stimmansatz zum ersten Wort zu «hören» war, bedeutet das «theologisch»: Die blosse Tatsache, dass sich Gott uns zuwendet, dass er zu uns sprechen will, die reine Tatsache, dass uns Gott anschaut und meint – vor jedem gesprochenen Satz, vor jedem Inhalt –, ist «Ursache» der ganzen Lebensordnung der Thora, hat zur Folge, dass wir jedes Detail unseres Lebens neu ordnen, so ordnen, dass es dieser Tatsache nicht widerspricht, mit ihr vereinbar, mit dem Wunder von Gottes Liebe zu uns in Übereinstimmung ist. Es bedeutet: Alle 613 Gebote der Thora sind menschliche Antwort auf Gottes Erwählung, die Umsetzung unserer Freude über seine Zuwendung zu uns, die Umsetzung unseres Berührtseins von seiner Liebe, die Umsetzung in das soziale Leben, die Spiegelung von Gottes Güte in unserem menschlichen Miteinander. Die Thora – entsprungen einem Herzensimpuls. Das ganze Gesetz – Folge einer Herzensberührung. «Vom Aleph zum Geländer auf dem Dach».

Ernstpeter Heiniger, SMB-Missionar und Autor des Buches.

2. «Halloo Wach»

Im September 1956 bin ich ins Progymnasium Rebstein gekommen, und schon bald sind wir auf «Obstbettel» gegangen, haben bei den Bauersfamilien in Rebstein und Umgebung Kartoffeln, Obst und Gemüse erbeten und in Leiterwagen zusammengeführt. Ich war mit P.Erwin Oehler unterwegs, ein unvergessliches Erlebnis jenes Herbstes. Und unvergesslich ist mir die Predigt, die P.Oehler, der auch Ökonom des Progymnasiums war, am Sonntag danach in der Kapelle hielt. Ich hörte ihn zum ersten Mal predigen. Er gliederte seine Predigten in drei Punkte, denen er Titel voranstellte, die er auch vorweg nannte. Da hörte ich also: «1.Vergelts Gott, 2. Für Pommes frites, 3.Halloo Wach.» Das ist mir geblieben, und ich habe seine Methode später für mich selbst «reaktiviert». Und heute nehme ich seine Punkte von damals für die Gliederung, wenn auch in anderer Reihenfolge.

Sie wissen, was «Halloo Wach» ist? «Halloo Wach» ist ein koffeinhaltiger Wachmacher in Tablettenform. Die Autofahrer waren 1950 und danach begeistert von seiner Wirkung. Eine Autofahrt, ein Weg mit seinen Kurven, eine Autobahn mit ihrem Verkehr, verträgt keinen Augenblick der Unaufmerksamkeit, schon wäre die Kollision da. Auch die Heilsgeschichte» verträgt keine Unaufmerksamkeit. Das Entscheidende geht ganz leicht verloren, wenn man nicht aufpasst.

Denn: Für den Menschen gibt es «Sinn» nur in «Sinnlichkeit», «Geist» nur in «Leib». Alles Geistige können wir nur fassen in sinnlichen Zeichen, müssen es ausdrücken durch sinnliche Zeichen. Was nicht eine Gestalt annimmt, geht verloren, wird nicht wirksam in der Geschichte, ist wie nicht gewesen. Jeder geistige Impuls ist verloren, wenn er sich nicht «verkörpert» – in einem Wort, in einer Geste, in einem Text, einem Bild, einem Brauch, einem Ritus, einer Institution. Was ihn verkörpert, macht ihn sichtbar, offenbart ihn, die sinnliche Gestalt gibt dem geistigen Impuls erfahrbaren Ausdruck, aber sie kann den geistigen Impuls nur beschränkt aufnehmen und ausdrücken. Sie macht ihn sichtbar, offenbart ihn, sie verzerrt ihn aber auch, verdunkelt ihn zugleich. Sie kann ihn mit der Zeit, unter gewandelten Verhältnissen sogar ganz verstellen.

Das ist es, warum ich meinem Impuls den Titel gegeben habe: «Vom Aleph zum Geländer auf dem Dach – und zurück».

Ohne die 613 Gebote und Verbote der Thora wäre der «Herzensimpuls» vom «Sinai» wie nicht gewesen. Die «10 Worte» und mit ihnen die anderen der 613 Gebote und Verbote machen ihn offenbar, machen ihn in der Geschichte wirksam – und können ihn doch nur beschränkt «fassen», sie verstellen ihn auch. So dass Generationen kommen, die diskutieren und sich befehden, ob man am Sabbat ein Leben retten darf oder nicht, und Jesus, der den «Herzensimpuls» spürt, sagen muss: «Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.»

Und damit bin ich beim Thema der unaufhaltsamen Veränderung von allem und der Notwendigkeit, in aller Veränderung das einzig Wesentliche zu bewahren, und damit bei der
«ecclesia semper reformanda» und dem immerwährenden und unverzichtbaren Antagonismus von «Bewahren» und «Fortschreiten», von «conservatio» und «progressio».

3. «Für Pommes frites»

Und ich komme zu P.Oehlers zweitem Punkt: «Für Pommes frites». «Für Pommes frites», mit diesen Worten hatte uns damals beim Obstbettel eine Frau sorgsam ein paar Kartoffeln anvertraut, schöne Kartoffeln, Kartoffeln für ein Festessen. «Für Pommes frites», mag hier [in unserem Zusammenhang] die «anthropologische Wende» ansprechen, den grossen «Paradigmenwechsel», der im Buchtitel «Von der Heidenbekehrung zur Befreiungstheologie» aufscheint.

Ich «liste» drei solcher Zeichen für den Paradigmenwechsel auf, um den es hier geht:

1 Johannes XXIII., Papst vom 28.10.1958 bis 3.6.1963, der das 2.Vatikanische Konzil anberaumte, hat für sich 10 «Tagesregeln» aufgestellt, die alle beginnen mit den Worten:
«Nur für heute …» Immer wieder staune ich, dass er, unter Nr. 3, die folgende Regel aufgenommen hat: «Nur für heute werde ich in der Gewissheit glücklich sein, dass ich für
das Glück geschaffen bin – nicht nur für die andere, sondern auch für diese Welt.»

2 Vom 11.10.1962 bis zum 8.12.1965 hat das 2.Vatikanische Konzil stattgefunden. Seine Pastoralkonstitution «Gaudium et Spes» (7.12.1965) beginnt mit den Worten: «Freude
und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.
Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.»

3 «Vorkonziliar» lautete die «Erste Katechismusfrage»: «Wozu sind wir auf Erden?» Und die Antwort war: «Wir sind auf Erden, um Gott zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen.» «Nachkonziliar» lautet sie: «Welchen Ratschluss hat Gott für den Menschen?» Und die Antwort beginnt mit den Sätzen: «Gott ist in sich unendlich vollkommen
und glücklich. In einem aus reiner Güte gefassten Ratschluss hat er den Menschen aus freiem Willen erschaffen, damit dieser an seinem glückseligen Leben teilhabe …»

Ein gewaltiger «Paradigmenwechsel», die Blickwendung auf den Menschen, auf die Menschen, die konkreten, hier auf der Erde. Ein längst fälliger Paradigmenwechsel, die
Rückkehr aus einer «Verirrung». Denn die «anthropologische Wende» ist im Tiefsten die Übernahme des liebevollen Blickes Gottes auf den Menschen, die Bewegung Gottes, in
der er sich selbst offenbart, die Offenbarung, die – nach einem Wort Franz Rosenzweigs – noch vor dem Aleph beginnt, wenn es heisst: «ER stieg herab.»

4. «Vergelts Gott»

Die Kirche besteht aus drei Vollzügen: der Verkündigung des Evangeliums/der Feier der Heilstaten Gottes an den Menschen in der Feier der Sakramente/der Liebe. Die ersten beiden sind «institutionalisiert», die Liebe ist nur da, wenn sie geschieht. Um ihretwillen ist alles andere. Denn sie (allein) ist nicht mehr vorläufig, sondern schon Wirklichkeit Gottes selbst.

Also Vorrang der Liebe. Aber die unter den Menschen geschehende Liebe ist die «Folge» der Liebe, die Gott zu uns hat. Sie wird uns im Evangelium verkündet. Also Vorrang der Verkündigung. Wir werden zu dieser Liebe befähigt, wenn die Heilstaten Gottes in den Sakramenten an uns wieder geschehen. Also Vorrang der Sakramente. Paradoxer Vorrang des jeweils einen vor den jeweils anderen.

So betrachtet ist «Vom Aleph zum Geländer auf dem Dach» nicht nur ein Auslegungsprinzip der Thora, es ist die Beschreibung der göttlichkirchlich-menschlichen Dynamik schlechthin.

Im Buch von Ernstpeter Heiniger wird sie vielfältig sichtbar. Nur ein Beispiel: vgl.S.167 unten, Fussnote 380. Vor dem Pfarrbüro von La Mesa hat sich eine Schlange von artenden gebildet. P.Xaver Bürkler fragt die Wartenden nach dem Grund ihres Wartens: «A la señorita Eduviges» – «Zu Fräulein Hedwig». Alle, bis auf einen, wollen zu Hedwig, der Krankenschwester, der leiblichen Schwester von P.Bürkler. Und die einzige Person, die den Pater selbst verlangt, braucht Hufnägel, die er ihm besorgen soll, um sein Pferd zu beschlagen.

Von der Eucharistie zu den Hufnägeln./Von der Liebe Gottes zur Hilfe für die Menschen./Vom Aleph zum Geländer auf dem Dach – und zurück.

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