Interview Josef Meili: «Wachsen lassen und warten können»

Josef Meili, Mitglied der Missionsgesellschaft Bethlehem (SMB), lebte und wirkte in Taiwan. Von ihm erschien kürzlich das Buch «Jakob Hilber unterwegs auf dem Fuji Jumbo 175». Die Schweizerische Kirchenzeitung (SKZ) sprach mit ihm über sein Leben und das Engagement der SMB.

21.02.2024

Autorin: Dr. Maria Hässig, Leitende Redaktorin Schweizerische Kirchenzeitung SKZ

SKZ: P. Josef Meili, Sie kamen 1974 nach Taiwan. Was waren Ihre ersten Erfahrungen?
Josef Meili: Die Leute waren sehr freundlich und hilfsbereit, sie überhörten immer höflich meine sprachlichen Fehler. Hingegen war es schwierig, die Gesichter auseinanderzuhalten. Die Gesichtszüge sind weniger ausgeprägt als die europäischen oder afrikanischen; alle scheinen gleich. Auffallend waren die vielen Sprachen, die in der Region Taitung gesprochen werden: Es sind drei chinesische und sechs grundverschiedene Sprachen der indigenen Volksgruppen. Das zweijährige Studium des Mandarin-Chinesisch war eine sehr intensive Zeit. Hinzu kam nach zehn Jahren noch die taiwanesische Sprache. Die Christen sind eine kleine Minderheit. Sie machen zwei Prozent der Bevölkerung aus. Die Toleranz zwischen den Religionen – Christen, Buddhisten und Taoisten – war auffallend: «Du hast deine Überzeugung, ich habe meine; beide sind gut. Arbeiten wir zusammen für das Wohl der Gesellschaft.» Schwieriger war das Verhältnis zu oft aufdringlichen Freikirchen; weniger oder gar keine Probleme gab es mit den Methodisten und Presbyterianern. Das leichte Essen schmeckte mir von Anfang an: Reis, Gemüse, Früchte, Meeresfrüchte, wenig Rindfleisch und viel Geflügel. Die subtropische Feuchtigkeit hingegen fand ich sehr unangenehm: im Sommer schwitzte ich permanent, im Winter blieb alles feucht.

SKZ: Welche Aufgaben hatten Sie inne und worin lagen die Herausforderungen?
Josef Meili:
Die erste Aufgabe war, ein zweijähriges Sprachstudium in Mandarin-Chinesisch mit abschliessendem Sprachexamen zu absolvieren. Anschliessend arbeitete ich als Vikar in einer Stadtpfarrei in Taitung an der Ostküste Taiwans. Taitung ist die kleinste Provinzhauptstadt mit etwa 100 000 Einwohnern. Daneben betreute ich auch eine kleine Gemeinde von mehrheitlich blinden oder augengeschädigten Kriegsveteranen und eine Taiwanesen-Gemeinde in den Bergen. Eine Gruppe von Mittelschülern wurde mir ebenfalls anvertraut. Durch die Arbeit mit einer Gruppe von jungen Erwachsenen erhielt ich den besten Einblick in die taiwanesische Kultur und Gesellschaft und die lokalen Religionen. Die Mitglieder beider Gruppen waren zu über 90 Prozent Angehörige der taoistischen oder buddhistischen Religionsgemeinschaft. Nach einem zweieinhalbjährigen Weiterstudium an der Jesuitenuniversität Ateneo de Manila arbeitete ich als Pfarrer in Taitung. Gleichzeitig war ich in der Ausbildung von Gemeindeleiterinnen und -leitern tätig. Daneben erhielt ich einen Lehrauftrag für Bibelarbeit am Nationalen Pastoralinstitut in Taipei. Den Kandidatinnen und Novizinnen der Ingenbohler Schwestern gab ich eine Einführung in die Liturgie und die Bibelarbeit. Die Begleitung von Pflegefachfrauen in verschiedenen Spitälern zum Thema Sterbebegleitung war eine sehr dankbare Aufgabe.

SKZ: Welche Leitlinien prägten Ihren missionarischen Einsatz?
Josef Meili: In Taiwan sind persönliche Beziehungen das wichtigste. Deren Pflege gehört zum A und O des Lebens in der taiwanesischen Gesellschaft und demzufolge in der Gemeindearbeit. Das bedeutet Präsenz, Zeit haben füreinander. Das SMB-Motto «Was wir sind, spricht mehr als was wir sagen», ist deshalb zutreffend. Sprachen lernen ist der unabdingbare Schlüssel zu den Menschen. Die Taiwanesinnen und Taiwanesen anerkannten unser diesbezügliches Bemühen. Auch Offenheit gegenüber anderen Kulturen, Religionen, Gesellschaftsformen und ein tabufreier Austausch über alle Fragen des Lebens schätzten sie. Die Frage «Wer bist du?» stand vor allen anderen Fragen wie solchen nach Fähigkeiten und Talenten. Zurückhaltung ist in Taiwan angesagt! Wachsen lassen und warten können, nicht den leisesten Druck ausüben in Bezug auf einen Religionswechsel! Die Taiwaner lassen sich Zeit in dieser Angelegenheit.

SKZ: Welchen Entwicklungen in der Missionsarbeit beobachten Sie von den Anfängen bis heute?
Josef Meili: Am Anfang war der Aufbau von christlichen Gemeinden angesagt. Dazu gehörte der soziale Dienst wie Schulbildung, Berufsausbildung und medizinischer Dienst. Dies stärkte das Selbstbewusstsein vor allem bei der indigenen Bevölkerung. Die Übersetzungstätigkeit und damit der Gebrauch der lokalen Sprachen in den Gottesdiensten sowie die Errichtung von Selbsthilfekassen nach dem System Raiffeisen förderten ihre Eigenständigkeit und ihr Selbstvertrauen. Die Gemeindeleiterinnen und -leiter wünschten, sich noch intensiver mit der Bibel, dem Glauben, der christlichen Ethik und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu befassen. So boten wir SMB-Missionare Weiterbildungen, vertieftes Bibelstudium und Führungsschulungen an. Schliesslich ging es auch darum, die Gemeindeleitung an die lokalen Verantwortlichen, seien es Laien oder Priester, Frauen oder Männer zu übergeben. Weil sich Taiwan innert zweier Generationen von einem Drittweltland in die erste Welt hinaufkatapultiert hatte, tauchten die gleichen gesellschaftlichen Probleme auf wie in Europa: Schuldruck, Arbeitssuche, Verbindung von Beruf und Familie, Immigration, Drogen. Dies sind neue Herausforderungen für christliche Gemeinden.

Josef Meili im Gespräch mit den Gemeindeleiterinnen Frau Cheng und Frau Yi.

SKZ: Wie haben Sie Kirche vor Ort erlebt?
Josef Meili: Als kleine Minorität war die Kirche sehr engagiert; eine loyale Zugehörigkeit zeichnete die Gemeinden aus. Die Gemeindemitglieder kannten sich und pflegten eine gute Zusammenarbeit mit mir als Pfarrer. Es gab keine Gottesdienste mit unbekannten Gesichtern. Gäste begrüssten wir in den Gottesdiensten persönlich. Die Gemeindemitglieder waren initiativ, lebendig und innovativ. Sie brachten die lokale Kultur in den Kirchengesang und an den Festen ein. Auch passten wir die liturgischen Farben an und übernahmen lokale Feiertage. Den Allerseelentag verlegten wir vom November auf das buddhistische Allerseelenfest im April; einen speziellen Gottesdienst mit Totengedenken feierten wir am chinesischen Neujahr und wir stellten Ahnentafeln für die verstorbenen Christen in den Kirchen auf.

SKZ: Welche Erfahrungen in Taiwan prägen Ihr Wirken in der Schweiz?
Josef Meili: Die interreligiöse und interkulturelle Toleranz in Taiwan motivierte mich, in der Schweiz z. B. bei Iras Cotis mitzuarbeiten. Dies beinhaltete das Ernstnehmen der verschiedenen Religionsgemeinschaften und eine Zurückhaltung im Beurteilen anderer Religionen oder Ideologien. Konfliktlösungen geschehen in Taiwan durch gegenseitige Annäherung der Meinungen. Direkte Konfrontation ist tabu. Erstere braucht zwar mehr Zeit, führt aber auch zum Ergebnis. Dies beeinflusst mich auch jetzt noch.

SKZ: Wie sieht der Einsatz der SMB zukünftig aus?
Josef Meili: Zurzeit leben und arbeiten zwei SMB-Mitbrüder in Taiwan. Die Präsenz der SMB pflegen Taiwanesinnen und Taiwanesen bewusst mit uns weiter. Vor zwei Jahren gründeten sie den Verein «Freunde Bethlehems». Er ist dafür gedacht, die Spiritualität und die Werte der SMB in Taiwan weiterzutragen. So begleiten deren Mitglieder zusammen mit Bruder Augustin Büchel SMB täglich Besucherinnen und Besucher durch die Ausstellung, die im SMB-Regionalhaus in Taitung geschaffen wurde und die Arbeit der SMB in Taiwan zeigt, und informieren über die SMB. Der Verein trifft sich regelmässig und organisiert Gedenktage zu verstorbenen SMB-Mitbrüdern. Ein Zivilverein verwaltet das ehemalige SMB-Regionalhaus und das dazugehörende Grundstück. Das Haus wird für Kurse, Exerzitien und Einkehrtage verwendet. Das Regionalhaus ist zudem vom Staat als schützenswertes Gebäude registriert. Zurzeit dreht das Team Sophia Chiang und Jack Hsu einen Dokumentarfilm über die Arbeit der SMB mit dem Arbeitstitel «Die Hirten der Ostküste». Bis anhin sind verschiedene Publikationen über die SMB in Taiwan erschienen. Alle Pläne der Gebäude, die der SMB-Bruder Julius Felder erstellt hat, wurden im Prähistorischen Museum in Taitung archiviert und sind zugänglich für die taiwanesischen Architekturstudentinnen und -studenten. Ob später neue SMB-Mitglieder nach Taiwan gehen werden, ist offen. Gegenwärtig leiten lokale Seelsorgerinnen und Seelsorger die Gemeinden, die die SMB aufgebaut hat. Aktuell registriert Frau Lin Ching-Mei alle Malereien von Gottfried Suter, die er an verschiedenen Orten in Taiwan geschaffen hat, und veröffentlicht sie in einem Fotoband; dasselbe geschieht durch eine Künstlergruppe mit den Bauten von Julius Felder. Wir sind sehr erstaunt über das grosse Interesse der Bevölkerung und der Regierung Taiwans am Werk der SMB. Auf diese Weise tragen sie das Erbe der SMB weiter.