Der Novizenmeister

Wer in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Aufgabe hatte, Männer, die frisch von der Matura kamen, zu motivierten Missionaren heranzubilden, war darauf bedacht, sie von weltlichen Einflüssen fernzuhalten. Dies galt überall in Mitteleuropa und betraf auch den Novizenmeister Josef Böhler, der von 1947 bis 1956 in Schöneck, Beckenried NW, tätig war.

29.09.2025

Autor: Al Imfeld SMB
Lead: Markus Isenegger SMB

Der Novizenmeister hatte sich einen Ständer für ein Fernrohr in einem einstigen Parkdreieck, etwas überhöht, errichten lassen. Er nahm zwar nur ab und zu das Fernrohr wie ein Baby aus seinem Zimmer mit und steckte es auf das Gestell. Nicht alle Novizen dachten an Raketen, da war der eine oder andere, der noch nicht purifiziert war, der vielleicht von bösen Geistern beeinflusst einen Riesenhoden im Geiste herumirren sah. Wie der Meister dann zum Himmel guckte, kam den ihn umringenden Novizen eher vor als suche er Engel. Weil er so bescheiden war, hätte er natürlich nie von einer Gottessuche im All geredet. Ob er je Sterne sah, weiss niemand, besonders nicht von einem Novizenmeister, der alles, was draussen liegt, verdrängt und von Einbildung und Glaube, die er durch lang andauernde Betrachtungen miteinander vermischt, lebt.

Wahrscheinlich einer gewissen Symbolik dienlich befand sich der eingemauerte Fernrohrständer genau in der Spitze eines Dreiecks, das eigentlich ein Gletschergarten sein sollte und vom Novizenmeister bepflanzt, umsorgt und vor allem gejätet wurde. Das Jäten war wohl seine Einübung in sein delikates Amt. Wie er einzelne Unkräuter herauszupfte, das kam genau der Haltung gleich, wenn er einen unwürdigen Novizen herauspickte und entliess. Da gab es kein Zögern; Gewissheit gehörte zum Charakter, Gnadenlosigkeit zum Beruf.

Vordere Reihe: Haag Josef, Meier Leo, Baumgartner Jakob, Böhler Josef (Novizenmeister), Blätzer Hans, Brändle Albert. Hintere Reihe: Jordan Viktor, Bernasconi Silvio, Egli Paul, Wyss Josef, Ketterer Bernhard.

Dass ein Novizenmeister einer Missionsgesellschaft derart weltfremd war, blieb auch nach seinem Tod ein Geheimnis. Dass die Novizen selbst von der Welt total abgeschirmt wurden, keine Zeitungen ein Jahr lang lesen durften, Radioapparate von Anfang an strikte verboten waren. Mit den anderen Seminaristen war kein Kontakt erlaubt. Das Noviziatshaus stand separat neben dem Grossen Seminar. Selbst im Speisesaal hatten die Novizen ihre eigenen Tische. Zimmer wurden danach durchsucht, ob sie Verbotenes enthielten; eigene Bücher konnten diese Zöglinge nicht besitzen, dazu gab es eine Novizenbibliothek und alle Buchausleihen mussten vom Meister erlaubt und kontrolliert werden.

All das ist erst recht im Nachhinein unverständlich, denn diese jungen Männer wollten alle Missionare werden, würden einst „in alle Welt“ ziehen, hinaus, in die Welt draussen, in den Fernen Osten, nach Rhodesien oder Kolumbien; sollten sie denn nicht darauf vorbereitet werden? Die Jünglinge waren natürlich darauf eingestellt; sie wussten, was sie auf sich nehmen würden und waren selbst sogar überzeugt, dass je mehr Abschirmung desto besser würden sie einst die Welt verstehen. Sie nahmen all das als eine tief christliche Initiation in Kauf. Das Einzige, das sie mitbekamen, war bei Besuch von Missionaren auf Urlaub, die überall herrschende Bedrohung durch den Kommunismus; von einem Ringen der Kolonien nach Unabhängigkeit hörten sie nichts. Diese Kämpfer in den Kolonien gegen die Kolonialisten waren die Terroristen jener Zeit. Gewarnt wurden die Novizen vor ihnen, denn man stellte sie alle als Abgefallene und Ungläubige, als Gottlose und Teuflische vor.

Aufstieg zum Glattigrat NW – zum Noviziat gehörte die Skitour auf Fellen.

Dieses Noviziatsjahr war täglich nach halben Stunden eingeteilt, denn man wollte die frommen Jünglinge für eine Leben voller Wendigkeit und Anpassung erziehen, sagten die Oberen. Dazwischen gab es sowohl am Vormittag wie am Nachmittag je einstündige Opera, d.h. Haushaltsarbeiten wie Putzen und Reinigen, Jäten oder Umstechen, Gemüse Rüsten und Kartoffeln Schälen. Diese Arbeiten bedeuteten Abwechslung und sie wurden von den Novizen geliebt.

Je drei halbe Stunden waren reserviert zum Lesen der Imitatio Christi (Nachfolge Christi) von Thomas von Kempten, mystische Schriften der Grossen Theresa von Avila und als Dritten den unverdaulichen und beinahe stumpfsinnigen Spanier Alvares (Name stimmt nicht): sie waren die Kost aller damaligen Novizen. Dazu kamen die täglichen Vorgaben für den kommenden Tag, die abendlichen Betrachtungspunkte des Novizenmeisters. Die drei obligatorischen Bücher kommentierte er kaum; er liess die Novizen schwimmen, als ob über Unverständliches und scheinbar Sinnloses langsam Sinn und Verstand entstehen würden.

Der Novizenmeister war eine der Welt enthobene Gestalt, obwohl er doch etwas korpulent war. Niemand von den Novizen wusste, was er neben dem Hüten seiner Herde sonst noch tat – ausser dem jahreszeitlich bedingten Jäten und dem scheinbaren Sterngucken.

Stundenhalt beim Tannenbühl (Klewenalp).

Ab und zu schritt er ganz nervös über den Hof, einmal, zweimal, vielleicht sogar dreimal. Nichts von Gelassenheit strahlte er aus. Es kam einem vor, als ob er im Geiste Katzen vertrieb. Oder schaute er gar nach Schlangen um?

Allmorgendlich las er in der Novizenkapelle für alle kommenden Mitbrüder die Messe. Es war noch die Zeit des Lateins, der genauen Riten und der damit verbundenen Angst, etwas falsch zu machen. Übervorsichtig war er schon – der Novizenmeister, aber ohne diesen Habitus wäre er wohl bestimmt nie Novizenmeister geworden.

Der Novizenmeister hatte die ihm Anvertrauten genau zu beobachten und beurteilen. Er liess dieses Gericht zweimal während des Jahres auch durch alle Mitnovizen vollziehen. Man nannte das die Lapidatio, die Steinigung. Jeder schrieb das Negative und noch zu Verbessernde aller Mitgefährten im Noviziat auf ein Blatt, das dann der Novizenmeister auswertete und dem Betroffenen übergab und das Resultat mit ihm besprach. Positiv durfte über die anderen nur je ein Satz geschrieben werden. Diese Lapidatio war für alle ein grossartiger Moment, in einem gewissen Sinn man wagt es kaum auszusprechen der Höhepunkt des Noviziats.

Das Noviziatsjahr 1961–1962. Kniend vordere Reihe von links: Hans Widmer, Alois Lang, Bernhard Hausherr, Viktor Camenzind, Josef Eugster und Engelbert Schuwey. Stehend hintere Reihe von links: Klaus Wildisen, Urs Bärlocher, Marius Andrey, Markus
Isenegger, Ernst Wildi, Francesco Ferrari, Hans-Ruedi Erdin, Jakob Crottogini, Gerold Betschart, Jean-Paul Deschler, Johannes Bitterli, Louis Zimmermann und Eugen Birrer.

Ein Jahr kam, ein Jahr ging, aber der Novizenmeister blieb. Es war eine Welt, die keine Änderung bloss Askese kannte. Der Novize kam nicht, um die Welt besser verstehen zu lernen, sondern eher um das Böse etwas wegzuschieben.

Er blieb unveränderlich. Seine Werte bestanden aus einer eschatologischen Vergangenheit: viel jesuitisch, etwas jungfräulich mit Theresa und Maria, wachsam mit der spanischen Reconquista. Seine Missionstheologie bestand aus Zurückeroberung der böse gewordenen Welt hinein in die katholische Kirche.